taz.de -- Kommentar Stuttgart 21: Der konservative Protest

Bürger gegen Politik: dieser Konflikt spiegelt sich derzeit an vielen Orten der Republik. Im Kern ist es ein konservatives Grundgefühl, das sich in all diesen Protesten äußert.

Zeigt sich in Stuttgart die Zukunft der Republik? In der schwäbischen Metropole haben sich die Bürger gegen die Politik zusammengeschlossen - in einer Weise, die eine derart pauschale Formulierung durchaus rechtfertigt. Fast alle Parteien dort waren für das Bauprojekt Stuttgart 21, das aus ihrer Sicht nicht nur ein Bahnhofsneubau, sondern ein entscheidender Schritt zur Modernisierung ihrer Stadt ist. Die meisten Bewohner aber sind gegen das Vorhaben, weil sie darin gleichfalls mehr sehen als eine gewöhnliche Baustelle - nämlich die brachiale Zerstörung ihrer Stadt.

Es sind zwei Positionen, zwischen denen kaum eine Vermittlung möglich ist, und es ist ein Konflikt, der an vielen Orten wiederkehrt - unter ganz unterschiedlichen Vorzeichen. Bei der Hamburger Volksabstimmung zur Schulreform begehrte die Mehrheit gegen eine Allparteienkoalition auf, beim Referendum über das Rauchverbot votierten die Bayern dagegen, an einer gerade erst gefundenen Regelung schon wieder herumzureformieren. Auch in der Begeisterung für den Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck artikulierte sich ein Unbehagen an der Politik als Ganzem.

Im Kern ist es ein konservatives Grundgefühl, das sich in all diesen Protesten äußert. Während die meisten Politiker weiter einem Fortschrittsoptimismus huldigen, eine bessere Zukunft versprechen und nichts so sehr fürchten wie den Vorwurf des Stillstands, hat die Mehrheit der Bevölkerung den Glauben an diese Parolen längst verloren. Dieser ambivalenten Stimmungslage, die eine berechtigte Skepsis gegenüber Großprojekten ebenso umfasst wie eine manchmal übertriebene Zukunftsangst, haben die Grünen ihren phänomenalen Aufstieg zu verdanken.

Die Frage bleibt, wie sich dieser Grundkonflikt in die politische Arena zurückverlagern lässt. Ohne den Eindruck, dass sich "die da oben" sowieso einig sind, wäre die Hamburger Schulreform womöglich leichter durchsetzbar gewesen. Auch in Stuttgart hätte ein offener Streit der großen Parteien vermutlich befriedend gewirkt - ganz gleich, wie er am Ende ausgegangen wäre.

6 Aug 2010

AUTOREN

Bollmann

ARTIKEL ZUM THEMA

Großdemo gegen Stuttgart 21: "Das Volk soll entscheiden"

Demonstranten besetzen kurzzeitig die Gleiszugänge des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Sie fordern den Stopp von "Stuttgart 21" und den Rücktritt des Oberbürgermeisters.

Stuttgart 21: Das wären die Alternativen

Im Schwabenland wächst der Widerstand gegen das Mammutprojekt "Stuttgart 21". Doch was wäre eigentlich die Alternative? Das hier.

Protest gegen Stuttgart 21: Täglich ein Schwabenstreich

Samstag werden wieder Tausende gegen den Abriss des Stuttgarter Bahnhofs demonstrieren. Der Bahnhof als Symbol: Die Stuttgarter ärgern sich, dass sie niemand ernst nimmt.

Bahn-Projekt Stuttgart 21: Immer mehr finden's unterirdisch

Das milliardenteure Gleisbauprojekt treibt die Menschen auf die Barrikaden. Warum empört das so viele Baden-Württemberger? Und was geht das Deutschland an?

Stuttgart 21: High Noon am Nordflügel

Der Streit über das Milliardenprojekt geht in die entscheidende Phase. Teile des alten Bahnhofs sollen jetzt abgerissen werden. Und der Widerstand der Gegner wächst.

Kolumne Stuttgart 21: Rezepte für die Stadtrevolte

Jetzt soll der Bagger Stuttgart 21 den Weg freischaufeln. Längst gibt es Kleinproteste. Doch die taz erklärt, wie man noch glamouröser sabotiert: Fünf nicht ganz ernst gemeinte Tipps.