taz.de -- Kampagne gegen Missbrauch: Opfer sollen ihr Schweigen brechen
Mit einer neuen Kampagne will die Bundesregierung noch mehr Missbrauchsopfer erreichen. Inzwischen melden sich bei der neuen Anlaufstelle auch viele Ältere.
BERLIN taz | Sexuelle Misshandlung von Kindern soll nach dem Willen der Regierungsbeauftragten Christine Bergmann deutlich später verjähren. Dies sei eine Forderung vieler Betroffener, die sich bei bei der Anlaufstelle der Missbrauchsbeauftragten melden, sagte Bergmann am Dienstag bei der Vorstellung eines ersten Zwischenberichts. Mit einer Medienkampagne will Bergmann noch mehr Betroffene dazu bewegen, ihr Schweigen zu brechen.
Seit Einrichtung der telefonischen Anlaufstelle Ende Mai haben sich 1.700 Anrufer bei der Hotline gemeldet, außerdem wandten sich 800 Menschen per Brief an die Beauftragte. Die Bundesregierung hatte die ehemalige Familienministerin Ende März als Ansprechpartnerin für Betroffene eingesetzt. Neben Opfern von sexuellem Missbrauch sind fast ein Fünftel der Anrufenden bei der Anlaufstelle Menschen, die Missbrauch in ihrem Umfeld wahrnehmen. Auch eine kleine Zahl von Tätern habe sich gemeldet, sagte der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, der die wissenschaftliche Begleitforschung der Anlaufstelle leitet.
Fast zwei Drittel der Anrufer haben sich zuvor noch nie jemandem anvertraut, obwohl der Missbrauch in der Regel lange Zeit zurückliegt. Dies spiegelt sich auch im Alter der Betroffenen wider, das durchschnittlich bei etwa 50 Jahren liegt. "Selbst 80-Jährige haben sich bei uns schon gemeldet", sagte Bergmann. Das sei sehr erschütternd. "Die meisten Menschen haben jahrzehntelang darüber geschwiegen."
Während weibliche Opfer Missbrauch zumeist im familiären Umfeld erfahren, sind Männer eher im Kontext von Institutionen betroffen. Dass sich etwa gleich viele Frauen wie Männer bei der Hotline melden, ist ungewöhnlich. Nach bisheriger Forschungslage sind deutlich mehr Frauen als Männer von sexuellem Missbrauch betroffen. Allerdings wird auch eine hohe Dunkelziffer bei Männern vermutet. Für Fegert zeigt die steigende Bereitschaft von Männern, sich zu äußern, dass "sich in der Gesellschaft etwas verändert hat".
Neben der Verlängerung der Verjährungsfrist für sexuellen Kindesmissbrauch fordern viele Betroffene mehr anonyme Anlaufstellen, bessere Therapiemöglichkeiten und angemessene finanzielle Entschädigungen. Eine Aufklärungskampagne mit Plakaten, Postkarten und einem Fernsehspot des Filmemachers Wim Wenders soll die Gesellschaft weiter für das Thema sensibilisieren.
22 Sep 2010
AUTOREN
ARTIKEL ZUM THEMA
Die Kampagne "Sprechen hilft!" war nach dem Bekanntwerden einer Vielzahl von Missbrauchsfällen gestartet worden. Jetzt stellte die Unabhängige Beauftragte Christine Bergmann eine erste Bilanz vor.
Die Missbrauchsbeauftragte der Regierung hat die katholische Kirche aufgefordert, Opfer sexuellen Missbrauchs zu entschädigen. Auf der Bischofskonferenz wurden keine Zahlen genannt.
Die geplante Entschädigung ist mit 5.000 Euro sehr gering, doch immerhin haben sich die Jesuiten damit als Erste überhaupt zu materiellen Entschädigungen durchgerungen.
Zu Beginn seiner Großbritannien-Reise bedauert Papst Benedikt XVI. den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch. Die Enthüllungen seien ein Schock gewesen.
Vermutlich 5.000 Euro will der Jesuitenorden Missbrauchsopfern zahlen. Zu wenig, finden die Betroffenen. Missbrauchs-Beauftragte Bergmann startet eine Medienkampagne.