taz.de -- Kommentar Ägypten und Islamismus: Schreckgespenst Islamismus
Das Mubarak-Regime behauptet, die Revolution könnte islamistisch kippen. Das geht in Ägypten nicht auf – aber in Europa. Dabei wird sich Teheran 1979 nicht wiederholen.
Die Strategie des Mubarak-Regimes, für öffentliches Chaos zu sorgen, damit die Bevölkerung nicht mehr nach Freiheit, sondern nach seiner ordnenden Hand ruft, verfängt in Ägypten nicht. Bei uns aber geht sie auf. Europäische Politiker und Experten warnen nun davor, in Ägypten könnten Extremisten die Macht übernehmen und der Aufstand drohe in eine islamische Revolution umzukippen. Dagegen helfe nur, was sie einen "geordneten Übergang" nennen.
Hinter dieser Formel verbirgt sich freilich eine Fortdauer des Regimes in Form einer vom Militär gestützten Fassadendemokratie. Wir sollten uns darüber im Klaren sein: Eine gerechtere, inklusivere und repräsentativere Ordnung in Ägypten - wie auch in anderen arabischen Ländern - muss alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte einschließen. Das umfasst eben auch jene Gruppierungen und Parteien, die einen moderaten politischen Islam vertreten.
Ägyptens Muslimbruderschaft, 1928 gegründet und bis heute offiziell verboten, ist eine der einflussreichsten Bewegungen des Landes. Bei Wahlen darf sie zwar nicht als Partei antreten, durch formal unabhängige Bewerber bildete sie aber - zumindest bis zu den manipulierten Wahlen 2010 - die größte Oppositionsgruppe im Parlament. Schon vor Jahrzehnten haben die Muslimbrüder der Gewalt abgeschworen, sich im System engagiert und die wenigen Möglichkeiten politischer Teilhabe genutzt, die das Regime ihnen bot. Seit Mitte der 1980er Jahre nehmen sie an Wahlen teil, seit Mitte der 1990er Jahre bekennen sie sich zu Parteienpluralismus, Meinungsfreiheit und dem Prinzip der demokratischen Machtzirkulation.
Ihre mit rund einem Fünftel der Sitze relativ starke Präsenz im letzten Parlament (2005-2010) haben sie konstruktiv genutzt, um die Arbeit und Kontrollfunktion dieser Institution zu stärken. Nach dem Anschlag in Alexandria haben sie gemeinsam mit Kopten Kirchen geschützt und gegen religiösen Fanatismus demonstriert. Jetzt unterstützen sie den ehemaligen Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed al-Baradei, als Führer eines breiten Bündnisses von Oppositionskräften darin, mit dem neu eingesetzten Vizepräsidenten und ehemaligen Geheimdienstchef, Omar Suleiman, zu verhandeln, um eine Übergangsregierung zuzulassen, die für einen echten Wandel steht. Die Muslimbrüder sind keine Extremisten, die nach der Macht greifen, sondern gehören zum politischen und gesellschaftlichen Mainstream.
Israels Sorgen vor einem Ende des Mubarak-Regimes sind indes nachvollziehbar. Schließlich ist der Frieden mit Ägypten immer ein kalter Frieden geblieben und hat nie zu einer Annäherung zwischen den Völkern geführt - weil es keine Fortschritte im Friedensprozess mit den Palästinensern gab und weil das ägyptische Regime antiisraelische Ressentiments durchaus als Ventil zu nutzen wusste.
Doch auch bei einer Regierungsbeteiligung der Muslimbruderschaft ist nicht zu erwarten, dass der Friedensvertrag mit Israel ausgesetzt wird, Israels Grenzen bedroht würden oder dass der Suezkanal gesperrt wird. Gegenüber der palästinensischen Hamas mag sich eine neue Regierung vielleicht solidarischer gerieren als die jetzige - sie wird dennoch im Eigeninteresse Distanz wahren.
Eine Wiederkehr dessen, was 1979 in Teheran geschah, ist in Kairo nicht zu erwarten. Sosehr die letzten Jahrzehnte an der Oberfläche von politischer Verkrustung geprägt waren, es gibt in Ägypten eine lebendige Zivilgesellschaft und eine ausgeprägte politische Streit- und Diskussionskultur. Zwar findet sich im Programm der Muslimbrüder auch die Forderung, das islamische Recht zur Hauptquelle der Gesetzgebung zu machen, dies wird allerdings keineswegs von der gesamten Führung geteilt. Denn diese weiß sehr wohl, dass solche Forderungen nicht den Zeitgeist treffen.
Insbesondere Ägyptens Jugend, die den jetzigen Aufstand trägt, hat deutlich gemacht, dass sie nicht nach neuen Ideologien lechzt, sondern nach mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Lebensperspektiven. Die deutsche Politik sollte deshalb den Übergang zu einem repräsentativen System in Ägypten rückhaltlos unterstützen und sich nicht von überkommenen Schreckgespenstern irritieren lassen.
1 Feb 2011
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