taz.de -- Alltag in Tokio: Kontrollierte Panik
Die Regierung versucht zwar, transparenter zu sein, doch viele Menschen misstrauen der Informationspolitik. In den Läden gibt es Hamsterkäufe, der Strom wird rationiert.
TOKIO taz | Ununterbrochen klingeln in der deutschen Botschaft in Tokio die Telefone. Ausländische Firmen ziehen ihre Mitarbeiter ab, die deutsche Schule in Yokohama wird für eine Woche geschlossen. In völligem Kontrast zu dieser Panik bei vielen Ausländern scheinen die Reaktionen der Japaner zu stehen.
Im Angesicht der dreifachen Katastrophe, Erdbeben, Tsunami, Atomunfall, wirken sie auf den Beobachter gefasst, besonnen, stabil. Es sieht so aus, als ob ochitsuku - ruhig bleiben - die oberste private und nationale Devise geblieben ist.
Seit Samstag rasen die Shinkansen-Schnellzüge zum Beispiel wieder so pünktlich wie zuvor in Richtung Westen nach Kioto, Osaka und Hiroshima. Am Montag wird gearbeitet, die Schulen sind geöffnet, an der Börse wird gehandelt. Ein Obsthändler im Tokioter Stadtteil Nerima kann die Ereignisse sogar mit Abstand sehen: "Wir werden unseren Enkelkindern einmal erzählen, dass wir dieses historische Beben miterlebt haben." Auch nach einem zweitägigen Trommelfeuer aus apokalyptischen Bildern und Horrormeldungen ist diese öffentliche Fassade intakt.
Doch trotz ihres besonnenen Auftretens sind viele Japaner schlichtweg fassungslos. "Ich weiß gar nicht, wie ich mit dieser Katastrophe seelisch umgehen soll", gibt die 36-jährige Hausfrau Ryo Matsumoto zu. "Wie soll es mit unserem Land weitergehen?" Auch in Kneipen verfolgen die Menschen wie in Trance die TV-Sondersendungen. "Ist das wirklich alles wahr? Es sieht doch aus wie im Film", meint die 25-jährige Miyako kopfschüttelnd.
Doch ein Verdrängen ist nicht mehr möglich. Mit jeder Stunde dringen die harten Fakten der Ereignisse tiefer ins nationale Bewusstsein ein: Die Beben vom Freitag waren mit ihrer jetzt nach oben korrigierten Stärke von 9,0 auf der Richterskala die stärksten Erschütterungen in der Region seit 1.200 Jahren. Auf einer Länge von 240 und einer Breite von 80 Kilometern brach der Meeresboden auseinander. Der Polizeichef von Miyagi rechnet allein in seiner Präfektur mit über 10.000 Toten. Die rund 100.000 Soldaten haben noch immer nicht alle Katastrophenorte erreicht.
Angesichts der Verwüstungen wird daher offen darüber spekuliert, dass die Opferzahl so hoch sein könnte wie bei dem großen Tokio-Erdbeben von 1923. Damals kamen über 140.000 Japaner um. Auch ein weiteres Beben der höchsten Stärke 7 auf der japanischen Skala ist möglich. "Die Wahrscheinlichkeit dafür beträgt während der nächsten drei Tage 70 Prozent", sagte Takashi Yokota vom Wetteramt.
Hamstereinkäufe
Am Samstag waren die meisten Bewohner im Großraum Tokio noch zu Hause geblieben. Ständige Nachbeben hatten sie an die Verletzlichkeit der Verkehrsverbindungen erinnert. Viele Geschäfte und Restaurants in den Einkaufsgegenden blieben geschlossen. Nur Geld hatten viele abgehoben, bis den Automaten die Scheine ausgingen.
Doch am Sonntag, als es nur geringe Nachbeben gab, verließen die Menschen ihre Wohnungen und Häuser. Es lockte jedoch nicht nur das warme Frühlingswetter. Vielmehr haben viele wie in äußerst kontrollierter Panik sehr bewusst ihre Schlüsse aus dieser unfassbaren Katastrophe gezogen: Gezielt deckt man sich in den wieder geöffneten Läden mit allem ein, was man bald brauchen wird, vor allem mit Brot, Wasser, Kerzen und Streichhölzern.
Taschenlampen waren sofort ausverkauft, denn in den nächsten Wochen und vielleicht sogar Monaten wird in Tokio der Strom rationiert, drei Stunden täglich gehen einzelne Stadtteile reihum vom Netz. Nach dem Ausfall von elf Atomkraftwerken im Nordosten fehlt bis zu ein Viertel des Spitzenbedarfs an Elektrizität.
Viele Hausfrauen denken noch weiter. Sie lassen ihren Mann den Tank des Autos füllen und stocken ihren Reisvorrat auf. Die Bebenregion Tohoku ist ein wichtiger Lieferant von Reis und Gemüse. Doch in den nächsten Monaten wird das Gebiet als Kornkammer ausfallen. Käufer werden Produkte aus der möglicherweise radioaktiv verseuchten Region womöglich sogar meiden. Viele Japaner erwarten daher, dass die Lebensmittelpreise steigen werden.
Auch die Nachrichten aus den Nuklearkomplexen in Fukushima belasten die Menschen. Mit Erschrecken stellen viele Japaner fest, dass 65 Jahre nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki das Wort "Hibakusha" - sinngemäß "Strahlenopfer" - wieder brandaktuell geworden ist. Bei vielen keimt der Verdacht, dass die Sicherheitsbehörden und die Regierung über die wahren Tatsachen nicht ehrlich informieren.
Das Misstrauen gegen den Stromversorger Tepco ist groß. Er hatte schon in der Vergangenheit die Öffentlichkeit belogen und betrogen. Auch den Politikern glauben viele nicht. "Die spielen die Sache herunter, damit die Menschen nicht in Panik ausbrechen", sagt die 33-jährige Emi, die sich mit ihrem Baby per Zug nach Westen absetzte. Zum Beispiel hatte Premierminister Naoto Kan am Samstag angekündigt: "Kein einziger Mensch wird gesundheitliche Probleme haben." Wenig später war sein Versprechen gebrochen: Da waren die ersten Menschen verstrahlt, und die Behörden verteilten Jodtabletten an die Evakuierten rings um die beiden Atomanlagen.
Nach anfänglicher Zurückhaltung begann die japanische Presse am Samstagabend, die staatliche Informationspolitik zu kritisieren. Die Zeitung Yomiuri fragte, warum Regierungssprecher Yukio Edano erst nach fünf Stunden detaillierte Angaben über die Explosion am Atommeiler gemacht hatte. Zudem warnte der Kommentator die Regierung davor, im Kampf gegen die Kernschmelze die falschen Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Die Kritik blieb nicht ohne Wirkung: Am Sonntag gaben sich Edano und der Kraftwerksbetreiber Tepco wesentlich transparenter. Der Regierungssprecher warnte sogar offen vor einer neuen Explosion, weil sich auch am zweiten betroffenen Reaktorblock beim Befüllen mit Meerwasser entzündlicher Wasserstoff bilde. Zugleich betonte Premier Kan, die Probleme in den Atomanlagen unterschieden sich von dem Desaster in Tschernobyl vor 25 Jahren.
Nach Ansicht von Beobachtern liegt im Ausmaß dieser Katastrophe jedoch auch eine Chance für die Pazifiknation. Regierungschef Kan sprach von der "größten Krise" seit dem Zweiten Weltkrieg und rief zum nationalen Zusammenhalt auf. "Die Zukunft des Landes hängt nun von den Entscheidungen des Einzelnen ab", erklärte Kan. Die Botschaft wurde verstanden: Viele Geschäfte verzichten zum Beispiel auf ihre Leuchtreklame, um Strom zu sparen. In Privathäusern werden die Heizungen ausgeschaltet und zwei Pullover mehr angezogen.
Auch in der Politik herrscht ein neuer, versöhnlicher Umgangston. Die Oppositionsparteien haben ihre harte Blockadehaltung der vergangenen Monate gegen Kan aufgegeben und volle Unterstützung für den notwendigen Maßnahmen zugesichert. Wenn sich die Menschen am Montag wieder an ihren Arbeitsplätzen begegnen, wird vielleicht genau jener Ruck durch diese leiderprobte Nation gehen, der diese Krise noch zum Guten wendet.
13 Mar 2011
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