taz.de -- Kommentar Contra von Boettichers Rücktritt: Spießig und hinterwäldlerisch
Keine Gesetzesverletzung, keine Strafe – von Boetticher hat sich nichts zuschulden kommen lassen.
Gegen das Strafgesetzbuch hat Christian von Boetticher nicht verstoßen. Auf Geschlechtsverkehr mit seiner Facebook-Bekanntschaft ließ er sich erst nach deren 16. Geburtstag ein. Anzeichen, dass die junge Frau zu sexuellen Handlungen gedrängt worden wäre, bestehen nicht. Im Gegenteil. Von Boetticher soll sogar die Eltern der Jugendlichen um deren Segen für die Beziehung gebeten haben. Und auch die Geliebte selbst ist dem 40-Jährigen nicht böse. "Ich kann bis heute nichts Schlechtes über Christian sagen", wird sie zitiert. "Es war Liebe."
Christian von Boetticher, bis gestern designierter CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in neun Monaten, mag ein Opfer seiner Naivität sein. Dass die sexuelle Beziehung zu einer Minderjährigen ihn die politische Karriere kostet, darf nicht überraschen. Dennoch sagt es mehr aus über die Funktionsweise einer sensationsgeilen Presse und einer Öffentlichkeit, der der Blick fürs Wesentliche abhanden gekommen ist.
Politiker werden nicht mehr nach Leistungskriterien bewertet. Die Frage ist nicht, ob ein Amtsträger gut regiert, ob er hält, was er vor der Wahl versprochen hat. Oder ob er einen sinnigen, würdigen Wahlkampf bestreitet. Lieber wird mit dem Teleobjektiv in fremde Schlafzimmer gezoomt. Wichtig ist nicht mehr, was im Regierungszimmer vonstatten geht. Entscheidend sind die Bettgeschichten.
Eigentlich aber geht es niemanden etwas an, mit wem Christian von Boetticher unter der Bettdecke verschwindet - solange er sich dabei nicht strafbar macht. An Politiker höhere moralische Ansprüche als an "normale" Menschen zu stellen, ist heuchlerisch. Glücklicherweise ist das Sexualleben auch von öffentlichen Personen längst das, was es sein sollte: Privatsache. Deshalb regt man sich auch nur noch in arabischen Staaten darüber auf, wenn ein Außenminister offen seine Homosexualität lebt.
Dass sich die Öffentlichkeit nun über die Affäre von Boettichers mit einer 16-Jährigen empört, ist Ausdruck einer Doppelmoral, wie man sie bisher aus den USA zu kennen meinte. Heerscharen von Deutschen posieren halbnackt im Internet, auf dem Pausenhof zeigen Schüler Handys mit Pornobildern rum. Sexualität ist allgegenwärtig. Sobald aber ein Prominenter über eine Affäre stolpert, wird mit dem Finger auf ihn gezeigt. Auch wenn er keine Gesetze verletzt hat - sondern höchstens ein Tabu und vage Sittlichkeitskonventionen.
In einer zivilisierten Welt mit einer fortschrittlichen Gesetzgebung sollten die Rechtssätze jedoch den gängigen Normvorstellungen entsprechen. Keine Strafe ohne Gesetz - das wussten schon die antiken Römer. Auch wenn von Boetticher keine Strafverfolgung fürchten muss, ist er hart bestraft worden. Sein steiler Aufstieg ist zu Ende, politisch ist er bankrott.
Wer seinen Rücktritt für unumgänglich hält, sollte konsequenterweise für eine Gesetzesänderung eintreten. Das Schutzalter müsste angehoben, sexueller Kontakt Erwachsener mit Unter-18-Jährigen gänzlich verboten werden. Das aber ist hinterwäldlerisch und spießig. In Bremen dürfen Jugendliche seit bald zwei Jahren schon mit 16 an Landtagswahlen teilnehmen, in anderen Bundesländern kursieren ähnliche Pläne. Knapp minderjährige Menschen dürfen sich also entscheiden, welchen Politiker sie wählen. Diese Wahlfreiheit sollte auch für den Sexualpartner gelten. Auch wenn der Politiker ist.
15 Aug 2011
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