taz.de -- Kommentar Psychiatrie in Russland: Die Rückkehr der Zwangsjacke

Eigentlich müssten die Pläne zum erneuten Einsatz der Zwangsjacke in Russland den Westen auf den Plan rufen. Doch da sind wirtschaftlichen Interessen vor.
Bild: Rollenverteilung klar geregelt: Noch Regierungschef Wladimir Putin (l.) und Präsident auf Abruf Dmitri Medwedjew.

Maßnahmen zur Verbrechensprävention braucht Russland angesichts schauderhafter Kriminalitätsraten tatsächlich. Doch das Gesetz, das die Staatsmacht nun vorbereitet, macht selbst schaudern: Potenzielle Straftäter sollen in die Psychiatrie eingewiesen werden können, um gesetzeswidrige Taten im Vorfeld zu verhindern.

Dieses Projekt erinnert an finsterste Sowjetzeiten, als Dissidenten systematisch als "Geisteskranke" weggesperrt wurden. Diejenigen, die diese Folter überlebten, waren für den Rest ihres Lebens menschliche Wracks. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszusehen, dass die Medizin künftig erneut missbraucht werden wird, um Andersdenkende aus dem Verkehr zu ziehen.

Beispiele für die Anwendung menschenverachtender Praktiken gibt es in Russland bereits jetzt genügend. So ist es kein Zufall, dass unabhängige Beobachter keinen Zutritt zu psychiatrischen Kliniken haben. Im Gegenteil: Das passt zu einem System, das sich von einer "gelenkten Demokratie" längst zu einer Autokratie entwickelt hat.

In Russlands Institutionen regieren Willkür und Korruption. Vor vorgeblich unabhängigen Gerichten finden politische Schauprozesse statt. Regierungsgegner können froh sein, wenn sie nach der Teilnahme an einer Demonstration nur ein paar Tage in Haft genommen werden.

Eigentlich müssten bereits die Pläne zum erneuten Einsatz von Zwangsjacke und Psychopharmaka den Westen auf den Plan rufen. Doch von dort ist nicht mit Protest zu rechnen. Denn statt Menschenrechtlern haben bei uns schon seit Jahren diejenigen Konjunktur, die uns erklären, warum wir Russland brauchen: Es geht um vitale westliche wirtschaftliche Interessen. Und gemessen an deren Bedeutung spielt ein in der Psychiatrie gequälter Unschuldiger mehr oder weniger eben nicht mal eine Nebenrolle.

5 Sep 2011

AUTOREN

Barbara Oertel

ARTIKEL ZUM THEMA

Pseudo-Demokratie in Russland: Operation Machtwechsel

Auf Präsident Dmitri Medwedjew folgt im nächsten Jahr der jetzige Regierungschef Wladimir Putin. Läuft alles nach Plan, wird er Russland bis 2024 führen.

Psychotherapeuten in Deutschland: Besser keine Nervenkrise in Uelzen

Die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt zu, die Wartezeiten werden länger. Mit dem Versorgungsgesetz entbrennt ein Streit um die Verteilung von Therapiepraxen.

Kampf gegen die Kriminalität in Russland: Putins Kritikern droht Zwangsjacke

Ein neues Gesetz zur Verbrechensprävention sieht eine Zwangseinweisung potenzieller Täter in die Psychiatrie vor. Von Bürgerrechtlern kommt Kritik.