taz.de -- Kommentar Attentatserie in Toulouse: Vernunft gegen Gefühl
Die Attentatsserie von Toulouse hat dem Präsidentenwahlkampf in Frankreich einen völlig anderen Charakter verliehen. Den Wählern stellen sich nun existenzielle Fragen.
Seit Wochen schien das Drehbuch der französischen Präsidentschaftswahlen festgelegt: Amtsinhaber Sarkozy war so unpopulär, dass nach Meinung vieler einem Erfolg François Hollandes nichts im Wege steht. Heute wollen sich nur wenige derer, die eben noch dem Sozialisten einen Erdrutschsieg voraussagten, festlegen lassen: Der Wahlkampf wird nach der offenbar islamistischen Wahnsinnstat von Toulouse einen völlig anderen Charakter haben.
Nichts habe man so sehr befürchtet, heißt es im Team von Hollande, wie ein völlig „unvorhersehbares Ereignis“. Für die französischen Wähler stellen sich nun unvermittelt auch geschichtsphilosophische Fragen. Welchen Stellenwert haben die großen Trends, die dem Einzelnen oft als Determinanten der gesellschaftlichen Entwicklung erscheinen? Was kann ein Mensch, was können kleine Gruppen dagegen überhaupt bewirken? Und liegt nicht im Motiv terroristischer Verbrecher auch die größenwahnsinnige Absicht, mit einer die Normen sprengenden Tat aus der anonymen Masse herauszutreten, ja: Einfluss zu nehmen auf Geschichte?
Was vermag der „Zufall“ Toulouse gegenüber der „Notwendigkeit“, fragte dieser Tage ein geradezu hegelianischer Leitartikel in Le Monde – und drückte die Hoffnung aus, dass sich mit der Einsicht in die „Notwendigkeit“ die gesellschaftliche „Vernunft“ gegen die individuelle „Emotion“ durchsetzen möge.
Es gibt in Frankreich jedoch genügend Demagogen, die alles tun werden, um die Wirkung der Gefühlsaufwallung nach dem Attentat noch länger auszubeuten. Ob das im Wahlkampf nur Störsignale bleiben werden oder ob die Republik am Beginn einer weiter reichenden Wende steht, ist längst nicht vorausbestimmt.
25 Mar 2012
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