taz.de -- Debatte Griechenland: Von den Griechen lernen

Jahrzehntelang haben die Niederlagen der Linken unser Denken und Handeln blockiert. Am Beispiel Griechenland kann die Linke begreifen, welche Alternativen möglich sind.
Bild: Ein Obdachloser vor dem Wahlplakat der konservativen Nea Democratia.

Die Vordenker und Akteure der Austeritätspolitik sind es gewohnt, ihre Entscheidungen als alternativlose Reaktionen auf vorgegebene Sachzwänge darzustellen. Eine weit um sich greifende Paralyse des kritischen Denkens ist die Folge.

Sie reicht bis weit in die Linke hinein und befördert dort die Tendenz, bei der Suche nach Gegenperspektiven auf historisch überholte Konzepte zurückzugreifen und die sich im sozialen Widerstand herausbildenden Alternativen zu übersehen.

Im Herbst 2009 hatte die Papandreou-Regierung in Griechenland nur zwei Handlungsmöglichkeiten: Sie konnte sich entweder auf das Trojanische Pferd der multilateralen Darlehen einlassen oder ihre Zahlungsunfähigkeit erklären. Wir wissen, wie ihre Entscheidung ausfiel, und wir haben die sich daraus ergebenden Konsequenzen kennen gelernt. Was aber wäre geschehen, wenn sie die zweite Option gewählt hätte?

Die Antwort ist einfach und in mancher Hinsicht auch überraschend. Mit der Feststellung ihrer Zahlungsunfähigkeit und der Verkündung eines damit gekoppelten Schuldenmoratoriums hätten die Akteure der griechischen Nationalökonomie erhebliche Handlungsspielräume gewonnen.

Staatsbankrott als Alternative

Ein Staatsbankrott hätte die Vertiefung der Krise verhindert, die ökonomische Konsolidierung beschleunigt und die griechische Gesellschaft vor einem lang anhaltenden Pauperisierungsprozess bewahrt. Da es sich bei der griechischen Schuldenkrise aus globaler Perspektive um ein vergleichsweise marginales Ereignis handelt, hätten sich auch die weltweiten Auswirkungen in Grenzen gehalten – trotz der zweifellos erheblichen Verluste auf der Seite der Investoren.

Durch die seit mittlerweile zwei Jahren praktizierte Austeritätspolitik haben sich die makroökonomischen Alternativoptionen wesentlich verändert. Die Deindustrialisierung und Pauperisierung Griechenlands ist weit fortgeschritten und infolgedessen ist das Gegensteuern schwieriger und zugleich dringlicher geworden.

Die Exponenten der griechischen „Koalition der radikalen Linken“ (Syriza) haben das erkannt und sich von der inzwischen allseits eingeforderten Präsentation glaubwürdiger Alternativen stimulieren lassen: ein Schuldenmoratorium bis zum Beginn der wirtschaftlichen Erholung, die Umwandlung der Austeritäts- und Umschuldungsabkommen in Programme zur Sozial- und Wachstumsförderung und einen partiellen Erlass der Staatsschulden.

Durch dieses makroökonomische Maßnahmenbündel sollen die grassierende Umverteilung der Einkommen von unten nach oben gestoppt, die soziale und ökonomische Gerechtigkeit wiederhergestellt und eine umweltbewusste Rekonstruktion der griechischen Nationalökonomie in Gang gebracht werden.

Nach allen Richtungen offen

Diese Revision ist nach Einschätzung von Syriza nur im europäischen Kontext möglich und sollte mit weitgehenden Maßnahmen zur regionalen Abrüstung kombiniert werden. Sie setzt infolgedessen auf einen wirtschafts- und fiskalpolitischen Kurswechsel auf europäischer Ebene.

Es gibt aber auch Ansätze, die sich aufgrund ihrer explizit antisystemischen Orientierung oder alternativ-ökonomischer Lebensentwürfe jenseits der vorgegebenen Strukturen bewegen. Auch für sie ist Griechenland inzwischen zu einem Laboratorium geworden: Wer mit extremen Enteignungs- und Pauperisierungsprozessen konfrontiert ist, steht vor existenziellen Entscheidungen, die die habituellem Normen aufsprengen können und die nach allen Richtungen hin offen sind.

Geografisch, sozialökonomisch und politisch gehört Griechenland mehreren Regionen an: der Mittelmeerregion, Südost- und Südeuropa sowie der Europäischen Union bzw. der Eurozone. Eine systemüberschreitende Perspektive kann nur noch in den Kontexten dieser sich überschneidenden Regionen gedacht werden und der griechische Widerstand gegen die Austeritätsprogramme ist deshalb auf seine Vernetzung mit den sozialen Massenbewegungen dieser Regionen angewiesen.

Neue Lebensentwürfe

Auch die Umschlagspunkte einer Transformationsperspektive lassen sich zumindest andeuten: die Egalisierung der Arbeitsbedingungen, Masseneinkommen und Sozialstandards; die Enteignung der großen Kapitalvermögen durch Vermögensabgaben und progressive Besteuerung; die Annullierung aller Staatsschulden; die Etablierung eines fiskalpolitischen Ausgleichsfonds und einer makroökonomischen Rahmenplanung zur Befriedigung der Massenbedürfnisse; die Beseitigung der militärisch-industriellen Komplexe und Repressionsapparate; aber auch die Säkularisierung der (De-facto-)Staatskirchen.

Der Weg zu neuen Ufern wird durch die Tatsache erleichtert, dass neue Lebensentwürfe unter dem Verarmungsdruck erheblich an Bedeutung gewinnen: Landbaukommunen, Handwerkergenossenschaften, Mieterkooperativen, Gesundheitskollektive und Pflegegemeinschaften. Sie werden auch in Griechenland zunehmend als Alternative zur Auswanderung, der klassischen Antwort des Proletariats auf akute Verarmungsprozesse, verstanden.

Jahrzehntelang haben die Niederlagen der Linken in allen ihren Spielarten unser Denken und Handeln blockiert. Doch nun ist es Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen. Den paradigmatischen Ausgangspunkt bildet die griechische Krise, in der sich die multilateral operierenden herrschenden Klassen anschicken, eine ganze Gesellschaft in den Ruin zu treiben. Am Beispiel einer vergleichsweise kleinen Nationalökonomie wird zurzeit getestet, inwieweit die subalternen Klassen – und möglichst nur sie – zur Tilgung der in die Staatshaushalte verschobenen Krisenkosten herangezogen werden können.

Diesen Praktiken der herrschenden Eliten können wir nicht tatenlos zusehen, denn sie beschleunigen die der kapitalistischen Gesellschaftsformation ohnehin innewohnende Tendenz zur Selbstzerstörung. Es ist dringlich, diese Entwicklung zu blockieren und den Vordenkern und Akteuren der Austeritätsprogramme eine glaubwürdige Alternative entgegenzusetzen.

4 Jun 2012

AUTOREN

Heinz Roth

TAGS

Griechenland

ARTIKEL ZUM THEMA

Debatte Griechenland: Unrecht oder Armut

Haben die Griechen eine Wahl? Nein, angesichts der drohenden Ohnmacht des Staates müssen sie wohl die korrupten Altparteien wählen.

Griechischer Fahnder über Steuerflucht: „Unberührbare Eliten“

Der Leiter der griechischen Steuerfahndungsbehörde schließt sich der umstrittenen Kritik der IWF-Chefin Lagarde über die Steuermoral seiner Landleute an.

Griechenlands Außenhandel in Gefahr: Hochriskante Geschäfte

Die Exportversicherung Euler Hermes bietet keine Ausfuhrgarantie mehr für Griechenland an. Die Bundesregierung schnürt ein Rettungspaket.

Finanzkrise in Griechenland: Keine Heilung auf Rezept

Griechenlands Gesundheitswesen steht vor dem Zusammenbruch. Apotheken und Kassen sind überschuldet, Medizin und Behandlungen gibt es nur noch gegen Bargeld.

Krise in Griechenland: Jetzt auch noch der Ouzo

Viele Griechen können sich ihr Nationalgetränk nicht mehr leisten, Ouzo-Hersteller kämpfen gegen die Pleite. Und das, wo ein guter Schnaps wichtiger ist als je zuvor.

Wege aus der Eurokrise: Trostpflästerchen, aber bitte umsonst

Die EU will den Sparkurs mit einem Wachstumspakt ergänzen. Doch wie? Mehr Autobahnen? Hilfe für arbeitslose Jugendliche? Und eine blockt fast alles ab – und liefert nichts.

Kinderarmut in Griechenland: Pausenbrote aus Spendengeldern

Die Armut in Griechenland trifft vor allem die Jüngsten. Wie etwa bei Familie Papagopoulos, die mit weniger als 500 Euro pro Monat zurechtkommen muss.

Linker griechischer Anwalt Ladis: "Die Regierung steht vorm Umsturz"

"Der Polizist hat direkt auf den Jungen geschossen", sagt Szeneanwalt Harry Ladis über den Tod des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos.