taz.de -- Chinesischer Aktivist angeblich erhängt: Mysteriöser Tod eines Bürgerrechtlers
Nach Jahren in Haft soll der Arbeiter- und Demokratieaktivist Li Wangyang nun im Krankenhaus Selbstmord begangen haben. Seine Füße berührten allerdings den Boden.
BERLIN taz | Er hat sich in 22 Jahren bitterster Behandlung im Gefängnis nicht selbst getötet, warum sollte er Suizid begehen, nachdem er seine Freiheit wiedergewonnen hat?“, fragt die Gruppe [1][Chinese Human Rights Defenders] angesichts des Todes von Li Wangyang.
Der 62-jährige Arbeiter- und Demokratieaktivist aus dem zentralchinesischen Shaoyang war Mittwoch früh im Krankenzimmer seines Hospitals mit einer Schlinge am Fenster hängend tot aufgefunden worden. So jedenfalls sahen ihn seine Schwester und ihr Mann, bevor gegen deren Willen die Polizei den Leichnam wegschaffte.
Die Angehörigen wundern sich, warum Lis Füße den Boden berührten, wenn er sich laut Polizei doch selbst erhängt haben soll. „Letzte Nacht waren wir noch bei ihm. Li zeigte keinerlei Anzeichen eines bevorstehenden Selbstmordes“, sagte sein Schwager Zhao Baozhu laut der Nachrichtenagentur afp.
Bürgerrechtler fragen, wie die Selbsttötung überhaupt möglich gewesen sein soll. Der kranke Li sei dafür selbst viel zu schwach gewesen. Auch wurde er ständig bewacht. „Wir können nicht ausschließen, dass seine Bewacher ihn zu Tode folterten und das als Suizid darstellten“, erklärte das Informationszentrum für Menschenrechte und Demokratie in China.
Streikaufruf nach dem Tiananmen-Massaker
Ein Grund für den Zorn der Bewacher könnte ein Interview gewesen sein, dass Li kürzlich einem Hongkonger Sender zum 23. Jahrestag der gewaltsamen Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung gab. Darin erklärte er, seine damaligen Aktivitäten nicht zu bereuen.
Im Juni 1989 hatte Li Arbeiter nach dem „Tiananmen-Massaker“ zum Streik aufgerufen. Dafür kam er elf Jahre ins Gefängnis. Später begann er einen Hungerstreik und wurde gefoltert. Als er nach seiner Freilassung versuchte, seine hohen Arztkosten von der Justiz erstattet zu bekommen, wurde er zu weiteren zehn Jahren Haft verurteilt. Erst 2011 kam er frei – taub, blind und humpelnd. Doch laut seinen Angehörigen weiter unbeugsam.
In Hongkong forderten am Donnerstag Demonstranten von Chinas Zentralregierung eine Untersuchung der Todesumstände. Laut Lis Schwager, der inzwischen mit seiner Frau unter Polizeiaufsicht steht, haben die Behörden jetzt eine Autopsie zugesichert.
7 Jun 2012
LINKS
AUTOREN
ARTIKEL ZUM THEMA
15 Jahre nach der Rückkehr steckt die ehemalige Kolonie in einer politischen Krise. Gegen Peking und seine Statthalter demonstrieren in Honkong Hunderttausende.
Auf den Finanzmärkten wird wild spekuliert, zugleich fallen ganze Exportmärkte aus. Die wichtigsten Politiker der Welt setzen auf China. Doch das Land hat eigene Probleme.
Werkeln am Parallelnetz: Iran und China entwickeln immer trickreichere Technologien, um das Internet überwachen und blockieren zu können.
Erstmals Selbstverbrennungen in Lhasa: Zwei Mönche haben sich in der tibetischen Hauptstadt mit Benzin übergossen und selbst verbrannt. Einer der Männer überlebte schwer verletzt.
Erstmals seit 14 Jahren weist die chinesische Regierung eine Korrespondentin aus. Der Druck auf ausländische Journalisten im Land verstärkt sich generell.
Chen Guangcheng ist in den USA zum Wahlkampfthema geworden. Die China-Kommission des Kongresses kümmert sich um den Fall. China stellt eine Ausreise in Aussicht.
Chinas Regierung hat gelernt: Dissidenten im Exil schädigen das Image des Regimes weniger als Dissidenten in heimischen Gefängnissen.
Aus Sorge um seine Sicherheit: Chen Guangcheng will nun doch ausreisen. Immer noch ungeklärt ist, ob er freiwillig die US-Botschaft in Peking verlassen hat.
China wirft den USA „Einmischung in innere Angelegenheiten“ vor. Doch dem Experten von Human Rights Watch zufolge haben die US-Diplomaten gesetzestreu gehandelt.