taz.de -- Staatsanwalt will RAFler „begnadigen“: Dealen für die Wahrheit
Der Stuttgarter Generalstaatsanwalt will Ex-RAFler „gnadenähnlich“ behandeln, wenn sie unbewiesene Morde gestehen. Nach so viel Zeit sei Wahrheit wichtiger als Strafe.
STUTTGART taz | RAF-Angehörige, die bisher ungeklärte Morde gestehen, sollen nicht erneut bestraft werden. Dafür plädierte der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger am Donnerstagabend bei einer Veranstaltung im Stuttgarter Haus der Geschichte. Pflieger war lange Jahre in der Bundesanwaltschaft für die Verfolgung von RAF-Tätern zuständig.
Er will dabei eine Vorschrift der Strafprozessordnung anwenden (Paragraf 154), die der Staatsanwaltschaft erlaubt „von der Verfolgung einer Tat ab(zu)sehen“, wenn eine neue Strafe gegenüber bereits verhängten Strafen „nicht beträchtlich ins Gewicht fällt“. Er hält die Vorschrift auch für anwendbar, wenn ein Ex-RAF-Mitglied einen Mord gesteht, der ihm bisher nicht bewiesen werden konnte.
In Betracht kommt die Regelung vor allem bei RAF-Tätern, die früher bereits zu „lebenslanger“ Haft verurteilt waren. Wenn in solchen Fällen heute neue Taten bekannt würden, müsste nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet werden. Als zusätzliche Strafe würde der geständige Täter dann nicht erneut zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, sondern nur zu einer kurzen Haftstrafe. Eine solche Zusatzstrafe hält Pflieger im Verhältnis zum ursprünglichen „lebenslänglich“ für verzichtbar.
„Bei einem so langen Abstand zur Tat sinkt das Bedürfnis nach Bestrafung und das Interesse an der historischen Wahrheit steigt, nicht nur bei den Angehörigen der Opfer“, sagte Pflieger. Dies sei zwar eine Lösung unter Anwendung geltenden Rechts, habe aber auch „gnadenähnlichen“ Charakter.
Im Interesse der Wahrheitsfindung
Pflieger erläuterte, dass aussagewillige Ex-RAFler das Gespräch mit der Bundesanwaltschaft suchen sollten. Bevor sie weitere Taten gestehen, könnte dann über die Anwendung des Paragrafen 154 gesprochen werden. Es wäre quasi ein „Deal“ im Interesse der Wahrheitsfindung.
Pflieger hatte seinen Vorschlag ansatzweise bereits im letzten September in der dritten Auflage seines Standardwerks „Die Rote Armee Fraktion“ gemacht. Im aktuellen Strafverfahren gegen Verena Becker wegen des Buback-Mordes 1977 spielte er aber noch keine Rolle. „Das Verfahren war wohl schon zu weit fortgeschritten“, sagte Pflieger jetzt in Stuttgart.
Ein Nachteil von Pfliegers Vorschlag: Aussagewillige Ex-RAFler, die Morde von anderen bezeugen wollen, können keine Straffreiheit für Dritte aushandeln. Eine generelle Amnestie für RAF-Taten lehnte Pflieger aber ab. Es gebe noch zu viele völlig unaufgeklärte Taten der dritten RAF-Generation, die von 1982 bis 1998 bestand.
22 Jun 2012
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Der Prozess gegen die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker soll vom Bundesgerichtshof überprüft werden. Die Verurteilung wegen „psychischer Beihilfe“ sei nicht überzeugend, so ihr Anwalt.
Das Urteil gegen Verena Becker lässt Ratlosigkeit zurück. Den Ex-Mitgliedern der RAF mangelt es wie dem Staat an einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Bei den Vorbereitungstreffen der RAF zum Buback-Mord war neben Becker noch rund ein Dutzend Personen anwesend. Wegen bloßer Beihilfe sollen sie aber nicht angeklagt werden.
Verena Becker wird wegen Beihilfe am Mord von Generalbundesanwalt Siegfried Buback verurteilt. Der Tatverlauf bleibt ungeklärt.
Der Mammut-Prozess um die Ermordung Siegfried Bubacks im Jahr 1977 geht zu Ende. Das Oberlandesgericht Stuttgart verkündet seine Entscheidung. Was ist denkbar?
Die Verteidigung der ehemaligen RAF-Terroristin Verena Becker fordert einen Freispruch. Es sei nicht bewiesen, dass sie an dem Attentat auf Siegfried Buback beteiligt war.
Die ehemalige RAF-Terroristin Verena Becker hat eine Beteiligung am Buback-Mord bestritten. Sie habe nur eine Vorbesprechung erlebt. Wer damals schoss, ließ sie offen.
Anhand von Genspuren soll die eventuelle Mittäterschaft der Ex-RAF-Terroristin Verena Becker neu überprüft werden. Der Sohn des 1977 ermordeten Bundesanwalts Siegfried Buback hatte Hinweise auf sie gegeben.