taz.de -- Sonderpädagogischer Förderbedarf: Fortgesetzter Bruch des Völkerrechts

Die Kultuspolitik sabotiert die UN-Konvention: Die Zahl der Kinder mit Handicaps und die der Förderschüler steigt. Dabei hat jedes Kind das Recht auf einen Platz in der Regelschule.
Bild: Kind mit Handicaps: landen oft nicht in einer echten Schule.

„Inwieweit es in Zukunft gelingt, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf stärker in die Regelschulen zu integrieren, bleibt abzuwarten.“ So steht es im Bundesbildungsbericht 2012. Ein Satz wie aus Gummi. Ein Satz, der vor einem UN-Gericht Stirnrunzeln hervorrufen würde. Aber die Bildungsforscher müssen sich solcher Plastiksätze bedienen. Sonst gibt es von den Kultusministern mit dem Rohrstock.

Also lassen die Forscher Fakten sprechen. Sie haben eine Tabelle angefertigt, auf der man sehen kann, wie viele Kinder direkt in die Förderschule eingeschult werden. Das heißt: Kinder, die in das allgemeine Bildungssystem gar nicht hineinkommen, sondern von Minute eins an in Sonderschulen lernen. Diese Zahl steigt. In Deutschland und in 9 von 16 Ländern steigt sie. In Baden-Württemberg wurden 2010 ganze 4,5 Prozent direkt in Sonderschulen gebracht, 2003 waren es 3,2 Prozent.

Dazu muss man wissen, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Konvention unterzeichnet hat, die besagt: Ein Sonderschulwesen darf es grundsätzlich nicht geben. Denn jeder Mensch hat das Recht auf das allgemeine Schulwesen – und sei er behindert. Die Länder haben ebenfalls ratifiziert. Aber was gilt denn schon das Völkerrecht gegen die Kulturhoheit der Länder?

In der Sekundarschule ist die Zahl der Schüler zwischen 2000 und 2010 um 15 Prozent zurückgegangen. Man möchte meinen, dass mit einer seit Jahren verhandelten und 2009 in Kraft getretenen UN-Konvention auch die Zahl der Förderschüler zurückgehen könnte. Weit gefehlt. Die Zahl der Kinder mit Handicaps stieg im gleichen Zeitraum um 1,5 Prozent.

Nie waren Sonderschüler wertvoller

Die Kultusminister bringen ein echtes Kunststück fertig: Unter ihrer Verantwortung steigt die Zahl der Förderschüler sowohl in den allgemeinen als auch in den Förderschulen, obwohl doch die Sonderschulen weniger werden sollten. Man könnte meinen: Sonderschüler waren noch nie so wertvoll wie heute – jeder will sie haben.

Die Lobby der Kinder mit Handicaps bleibt ruhig. „Die Zahlen zeigen“, sagt Martin Georgi, Geschäftsführer der Aktion Mensch, „dass die Bundesländer unterschiedlich mit Inklusion umgehen. Es ist eben ein langer Prozess. Wichtig ist, dass der Unterricht nicht mehr am Durchschnittsschüler ausgerichtet wird, sondern an jedem einzelnen – sei er hochbegabt oder ein Schüler mit Handicap.“

26 Jun 2012

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Christian Füller

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