taz.de -- Beschneidung und Grundrechte: Spielraum bei der Vorhaut
Über die Beschneidung wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden, warnt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Gekippt wird das geplante Gesetz aber kaum.
FREIBURG taz | Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) warnt, dass auch im Streit über die Beschneidung am Ende das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort haben könnte. Deshalb müsse die geplante ausdrückliche Legalisierung von Vorhautbeschneidungen besonders gründlich vorbereitet werden, sagte sie dem Spiegel. Sie dämpft damit Hoffnungen des Bundestags auf eine schnelle Lösung der Frage.
Es gibt in Deutschland allerdings keinen Automatismus, dass das Bundesverfassungsgericht über alle wichtigen Fragen ein Urteil spricht. Erforderlich ist vielmehr eine Klage in einem der zulässigen Verfahren.
Denkbar wäre zum Beispiel eine abstrakte Normenkontrolle. Eine Landesregierung oder ein Viertel der Bundestagsabgeordneten könnten nach Beschlussfassung das Verfassungsgericht anrufen, wenn sie die Beschneidungsregelung für verfassungswidrig halten. Da aber derzeit von der Union bis zu den Grünen fast alle großen Parteien den Gesetzesplan mittragen, ist dieser Weg eher unwahrscheinlich.
Möglich wäre auch, dass ein zivilrechtlicher Streit am Ende beim Bundesverfassungsgericht landet, zum Beispiel weil die Elternteile unterschiedliche Ansichten über die Beschneidung haben und deshalb ein Familiengericht eingeschaltet wird.
Kriminalisierung droht
Dann könnte dieses Gericht – wenn es die neue Beschneidungsnorm für verfassungswidrig hält – die Frage in Karlsruhe vorlegen. Oder ein Elternteil, der die Beschneidung verhindern will, klagt erfolglos durch alle Instanzen und legt am Ende Verfassungsbeschwerde ein. Da letztlich ein einziger Fall genügt, ist es durchaus wahrscheinlich, dass die geplante klarstellende Regelung am Ende vom Bundesverfassungsgericht überprüft wird.
Allerdings ist nicht zu erwarten, dass Karlsruhe das Gesetz kassieren wird. Zwar wird es prüfen, ob der Gesetzgeber das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit gegen das Erziehungsrecht und die Religionsfreiheit der Eltern abgewogen hat. Karlsruhe räumt dem Gesetzgeber aber traditionell großen Gestaltungsspielraum ein.
Bisher hat das Bundesverfassungsgericht erst einmal interveniert, weil der Gesetzgeber darauf verzichtete, ein bestimmtes Verhalten zu bestrafen: Das war 1975, als die Richter die Fristenlösung für Abtreibungen kippten. Aus Karlsruher Sicht ging es damals aber immerhin um das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, das strafrechtlich zu schützen sei. Im Vergleich dazu dürfte ein Stück Vorhaut nicht so schwer ins Gewicht fallen.
Außerdem dürfte das Gericht berücksichtigen, dass die gesundheitliche Bewertung der Beschneidung von Jungen reichlich umstritten ist. So gibt es auch viele Mediziner und Fachverbände, insbesondere in den USA, die die Beschneidung aus gesundheitlichen Gründen empfehlen. Zudem droht im Fall der Kriminalisierung von Beschneidungen, dass der Eingriff nicht mehr von Ärzten, sondern von Amateuren durchgeführt wird – und damit die Gesundheit der Kinder erst recht gefährdet wäre.
23 Jul 2012
AUTOREN
ARTIKEL ZUM THEMA
Bei der Sitzung des Ethikrats zur Beschneidung gab es einen großen Andrang. Das Gremium hält Beschneidungen für zulässig – unter Auflagen.
Oberrabbiner Yona Metzger ist wegen der Debatte aus Israel angereist. Beschneider sollen Medizinkurse belegen, sagt er. Das Alter der Jungen sei aber nicht verhandelbar.
Trotz der aufgeregten Debatte finden Beschneidungen weiter statt. Sowohl in den jüdischen, als auch in den muslimischen Gemeinden hat sich nichts geändert.
Der Grünen-Abgeordnete Memet Kilic hat gegen die Bundestags-Resolution gestimmt. Er findet, die Betroffenen sollten mit 14 Jahren selbst entscheiden, was mit ihrer Vorhaut geschieht.
Angstattacken und gestörte Orgasmen können aus einer Beschneidung resultieren, sagt Psychotherapeut Matthias Franz. Er fordert eine breite, sensible und politische Diskussion.
Politisch ist einiges in Schieflage geraten. Die Unversehrtheit des Kindes ist dem deutschen Bundestag egal. Weil man den Schmerz des Jungen nicht ernst nimmt.
Die parteiübergreifende Bundestags-Resolution zu Beschneidungen stößt auf Kritik. Beschneidungsgegner fordern mit einer Petition, die Gesetzespläne zwei Jahre aufzuschieben.
Die männliche Beschneidung ist nicht nur ein Teil der jüdischen und islamischen Identität – auch Christen propagierten sie: um die Onanie zu bekämpfen.
Die Politik handelt friedenstiftend und glücklicherweise gegen den Konsens der Bevölkerung. Denn für die Mehrheit der Deutschen ist Toleranz out.