taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: „Judenhass findet sich überall“

Gewalt gegen Juden kommt meist von rechts. Aber auch Muslime müssen sich dem Problem stellen, sagt Aycan Demirel von der Initiative gegen Antisemitismus.
Bild: Solidarität nach dem Angriff auf einen Rabbiner in Berlin.

taz: Herr Demirel, innerhalb von nur einer Woche gab es zwei antisemitische Übergriffe in Berlin. In beiden Fällen sollen arabischstämmige Migranten die Täter sein. Nun wird über Antisemitismus unter Muslimen diskutiert. Wie finden sie diese Debatte?

Aycan Demirel: Wenn in den letzten zehn Jahren über Antisemitismus berichtet wurde, dann fokussierten sich Medien zu oft auf Migranten. Aber Judenhass findet sich in jeder Gesellschaftsschicht, jeder Altersklasse und in jeder Community. Der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, welcher den größten Teil ausmacht, wird zu oft nicht thematisiert. Dieser ist wieder salonfähiger geworden, was ja das Gedicht von Günter Grass und die Debatte darum wieder gezeigt haben.

Also handelt es sich um Einzelfälle, wenn muslimische Migranten jüdische Mitbürger attackieren?

Es gibt ein Antisemitismusproblem unter muslimischen Jugendlichen. Aber der Polizeistatistik zufolge werden 80 bis 90 Prozent der antisemitischen Straftaten durch Rechtsextremisten verübt.

Die Amadeu Antonio Stiftung spricht von einer zunehmenden Zahl körperlicher Attacken junger Migranten gegen Juden. Haben Sie dies bei ihrer Arbeit auch beobachten können?

Diese Beobachtung kann ich nicht bestätigen. Was ich immer wieder erlebe, ist, dass die globalen Konflikte, vor allem der Israel-Palästina-Konflikt, sich auf das Verhalten der Jugendlichen in Deutschland auswirken. Wenn sich der Konflikt zuspitzt, passieren öfter antisemitisches Ereignisse. Eine ganz neue Entwicklung konnte ich 2010 beobachten, als die Gaza-Solidaritätsflotte durch israelische Sicherheitskräfte gestürmt wurde.

Bei der Erstürmung des türkischen Protestschiffs „Mavi Marmara“ wurden neun türkische Aktivisten durch israelische Sicherheitskräfte getötet.

Der von türkischen Islamisten geführte Schiffskonvoi wollte die israelische Blockade des Gazastreifens durchbrechen. Das Ereignis führte zu einer neuen Dimension antisemitischer Manifestationen, die in der Türkei bis dahin gesamtgesellschaftlich nicht stark verankert waren. Die antiisraelische Ausrichtung der Außenpolitik von Ministerpräsident Erdogan und die damit einhergehende Eskalation der türkisch-israelischen Beziehung hat diese Entwicklung gefördert.

In der türkischen Gesellschaft wurden die Ereignisse als Verletzung ihrer nationaler Ehre empfunden. Die israelfeindliche Stimmung wurde über Medien und soziale Netzwerke wie Facebook weltweit weitertransportiert. Bis dahin hatten Jugendliche mit türkischen Migrationshintergrund den Israel-Palästina-Konflikt nicht als ihr eigenes Problem wahrgenommen. Das änderte sich durch die Eskalation rasant.

Dieter Graumann, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, appelliert an die muslimischen Verbände, sich entschlossener gegen den Antisemitismus in den eigenen Reihen zu wenden. Finden sie das gerechtfertigt?

Bedingt. Die angesprochenen Verbände jedenfalls sind mir auch in der Vergangenheit nicht übermäßig durch ihr besonderes Engagement gegen Antisemitismus aufgefallen. Das Problem bei der Aussage ist aber, dass sie nahelegt, dass der Antisemitismus bei Muslimen besonders schlimm sei. Dazu gibt es in der Forschung keine stichhaltigen Befunde. Die gesamte Gesellschaft muss mehr gegen Antisemitismus unternehmen, dazu gehören auch die muslimischen Verbände.

Ali Kizilkaya, Vorsitzender des Koordinierungsrats der Muslime, hält dagegen: „Muslime brauchen keine Lehrstunde.“ Stimmen sie dem zu?

Ich würde Herrn Kizilkaya empfehlen, der Gefühlslage der Juden in Deutschland empathisch zu begegnen und konstruktiv mit der Kritik umzugehen. Abwehr hilft gar nicht. Auch sein Verband muss sich dem Problem ernsthaft stellen. Aber die Diskussion geht in eine falsche Richtung. Die Verbände sind wichtig – aber es gibt auch schon jetzt viele Muslime, die sich der Gefahr des Antisemitismus bewusst sind, in den öffentlichen Debatten aber so wenig vorkommen wie die zahlreichen Jugendlichen, die ein solches Verhalten wie bei dem Überfall auf den Rabbiner verabscheuen.

Sollten Juden in bestimmten Stadtteilen ihren Glauben verstecken?

Jüdisches Leben ist leider noch immer keine Normalität in Deutschland. Aber es ist total falsch, Kreuzberg, Neukölln und andere Stadtteile mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil zu stigmatisieren und sie zu No-go-Areas für Juden zu erklären.

6 Sep 2012

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Cigdem Akyol
Cigdem Akyol

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