taz.de -- Wer braucht heute noch Marx?: "Linke Kritik gilt als Bedrohung"

Marxismuskenner Alex Demirovic vor der Luxemburg-Liebknecht-Demo über konservative Debatten, neurotische Deutsche und die linke Szene in Berlin.
Bild: Was hat er heute noch zu melden?

taz: Herr Demirovic, wer braucht heute noch Marx?

Alex Demirovic: Alle. Die Marxsche Theorie ist die, die am rationalsten die moderne, bürgerliche Gesellschaft analysiert. Keine andere Theorie gibt derart umfassend die begrifflichen Mittel, um die Logik der heutigen Herrschaftsverhältnisse in Produktion, Finanzmärkten, Ökologie oder Geschlechterverhältnis zu verstehen. Daran wird auch weltweit angeknüpft – außer in Deutschland.

Warum nicht auch hier?

Da kommt vieles zusammen: Die Diskreditierung durch den Staatssozialismus, die lange antikommunistische Ideologie im Westen. Adorno hat schon in den Sechzigern gesagt: Das Verhältnis der Deutschen zu Marx ist neurotisch.

Berlin erfreut sich einer regen linken Szene. Wie theoretisch beschlagen ist sie?

Bei einer Reihe von Bewegungsgruppen wie der Interventionistischen Linken, Attac, der Antifa oder Teilen der Linkspartei sehe ich da schon Kompetenz. Eine dramatische Rückentwicklung findet aber an den Hochschulen statt. Die kritische Theorie ist dort völlig isoliert, vielleicht noch im Bereich Geschlechterforschung mit versprengten Ansätzen vorhanden, insgesamt aber ohne jede strukturbildende Kraft. Schauen Sie auf das Otto-Suhr-Institut (OSI), in den 70ern das Zentrum kritischer Politikwissenschaft – und heute? Praktisch tot! Zwar gehen da hunderte auch kritische Studierende hin, aber diskutiert wird nur noch innerhalb des liberalen und konservativen Spektrums.

Warum ändert sich das nicht in Zeiten der Finanzkrise?

Das zeigt, wie weit bürgerliche Interessen herrschend sind. Linke Kritik wird als Bedrohung wahrgenommen und marginalisiert. Und wenn an Unis und in den Medien kritische Stimmen fehlen, dann wird Systemkritik eben zur Sub- und Jugendkultur.

Viele Linke in Berlin arbeiten aktuell weniger an der Revolution, sondern ganz pragmatisch: Mit Genossenschaften am Holzmarkt, beim Energie- oder Wassertisch. Richtet sich die Linke im System ein oder baut sie Alternativen auf?

Diese Diskussion wird seit 150 Jahren geführt. Ich sehe die Entwicklung positiv: Solche Projekte entziehen der Profitwirtschaft Objekte der Kapitalverwertung. Die Frage ist jetzt: Wird das strukturbildend?

Berlin hat zuletzt auch eine neue Widerständigkeit erlebt: Besetzungen und blockierte Zwangsräumungen. Erwacht da die Arbeiterschaft?

Das sehe ich nicht. Aber viele Menschen – wie etwa am Kottbusser Tor – erkennen, dass die Stadtpolitik eine problematische Tendenz eingeschlagen hat. Diese Berliner Ideologie „arm, aber sexy“ wird ja längst durch Immobilienspekulation untergraben. Das merken nun zuerst die Kreativen, die Studierenden, die MigrantInnen und wehren sich.

Wäre Berlin – Hauptstadt der Arbeitslosen, der für Marx „erniedrigten Wesen“ – nicht prädestiniert für den kommenden Aufstand?

Wenn solche Prozesse isoliert in einer Stadt stattfinden würden, bewegen sie noch nicht das ganze Land. Und wogegen soll sich der Aufstand richten – gegen das Abgeordnetenhaus? Es gibt keinen Schalter, von dem man weiß: Wenn man den umstellt, wird es besser. Dafür sind die Probleme zu komplex. Aber es gibt viele Milieus, die sagen, so geht es nicht weiter. Die Alternativen suchen: in Genossenschaften, Tauschringen, anderen Beziehungsformen, Urban Gardening. Nur bündelt sich das noch nicht.

Geht es uns einfach zu gut für einen Aufstand?

Zu gut? Die Klimaziele werden nicht erreicht, wir erleben Verarmung oder sexuelle Gewalt. Da würde man sich schon wünschen, dass wir das irgendwann bewältigen.

Zusätzlich in der Wochenendausgabe der taz.berlin:Eine Reportage über junge Marx-Kenner und ein Essay von Helmut Höge über die linken Bewegungen in Berlin. Am Samstag in Ihrem Briefkasten und am Kiosk.

12 Jan 2013

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Konrad Litschko
Konrad Litschko

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