taz.de -- Kommentar NSA: Die Datenterroristen

Allmählich begreifen wir die Folgen der digitalen Revolution: Die Privatsphäre ist nicht mehr zu schützen. Aber ist das wirklich so schlimm?
Bild: Daniel Ellsberg, inzwischen 82-jährig, bei einer Solidaritätskundgebung für Bradley Manning

Er brummt noch in den Köpfen, der Schreck. Nicht die Völker dieser Welt, wohl aber die Geheimdienste haben sich vereinigt und genehmigen sich den üppigen Zugriff auf Privates, und zwar bei jedem. NSA, dieses nichtssagende Kürzel, ist seit Wochen in aller Munde, denn auch dem Letzten wurde klar, dass die digitale Revolution den gläsernen Menschen zur Norm erhoben hat. Aber ist das Datensammeln auf breiter Basis wirklich das entscheidende Problem?

USA 1971. Die New York Times druckt geheime Staatspapiere zum Vietnamkrieg. Der Ökonom und Friedensaktivist Daniel Ellsberg hat sie ihr zugespielt, stellt sich daraufhin den Behörden, kommt auf Kaution frei, wird der Spionage angeklagt, aber der Prozess platzt, weil Nixon den Whistleblower rechtswidrig überwachen lässt. Fazit: Die breite Öffentlichkeit erfährt, was wirklich in Vietnam los ist, und die New York Times klagt gegen das Verbot, die Dokumente zu veröffentlichen. Und gewinnt. Die Pressefreiheit wird gestärkt.

40 Jahre später ist ein solches Szenario undenkbar. Bradley Manning, Julian Assange oder Edward Snowden werden schon vor jedem Prozess von höchster Stelle als Verräter beziehungsweise „Hightech-Terroristen“ (Jo Biden) bezeichnet. Und Terroristen werden in den USA, wenn nicht erschossen, dann gefangen, gefoltert und weggesperrt. Entsprechend „grausam, unmenschlich und entwürdigend“, so die UN, fiel auch Mannings Behandlung aus: Isolationshaft, Nacktschlafen, 24-Stunden-Beleuchtung, Störung durch die Wächter alle fünf Minuten.

Inzwischen wurde der Soldat verlegt, seine Haftbedingungen haben sich verbessert. Trotzdem drohen ihm für die Weitergabe von angeblichen Geheimdokumenten zwischen 20 und 149 Jahre Haft. Die USA rächen sich. Den Datenfluss in die Öffentlichkeit können sie nicht stoppen, wohl aber Individuen zerstören. Ellsberg wünscht Snowden indessen alles Gute für seine Flucht und spricht von der „Vereinigten Stasi von Amerika“.

Informierte Normalbevölkerung

Diese Kritik trifft einen Punkt und erfasst die vertrackte Lage trotzdem nicht. Denn die Geheimdienste gewinnen zwar an Daten, verlieren aber an Macht. Die gigantische Sammelei macht auch sie angreifbar, denn geleakt wird in alle Richtungen. Damit wissen nicht nur die Dienste über einzelne Bürger so viel wie nie zuvor, auch die Normalbevölkerung ist über die Machenschaften der Überwachungsbehörden besser denn je informiert. Spielentscheidend ist damit die Interpretation der Daten, ihre schiere Menge ist lediglich beeindruckend.

Denn wirklich gefährlich wird die Überwachung erst in Kombination mit der inflationären Entrechtung und Kriminalisierung von Menschen als Terroristen. Ob in Brasilien, in der Türkei oder in den USA: Schnurstracks verunglimpfen die Staatschefs Protestierende als Staatsfeinde und wollen Exempel statuieren. Manning ist so eines; bekämen sie Assange oder Snowden in die Finger, wären diese die nächsten. Das weitgehende Desinteresse an Mannings weiterem Schicksal bedroht die Bürgerrechte damit fast so sehr wie die Geheimdienste.

Es wäre daher gut, in Deutschland und Europa würden die Leute auf die Straße gehen und die Regierungen auffordern, Snowden Asyl zu gewähren. Sicherheit für die Aufklärer würde die Geheimen zumindest bremsen. Nur die Zivilgesellschaft relativiert die Schattenseiten der digitalen Revolution.

Und so kommt die schönste Nachricht dieser Woche aus der analogen Welt, aus Istanbul: Auf der drei Kilometer langen Haupteinkaufsstraße, der Istiklal (Straße der Unabhängigkeit), setzen sich nach Sonnenuntergang Tausende nebeneinander, breiten Zeitungen vor sich aus, auf die sie ihr Essen legen. Gemeinsam begehen sie das Fastenbrechen. Die Konsummeile wird zur riesigen Tafel, und die Polizei hält still. Die angeblichen Terroristen zeigen sich der Welt als das, was sie sind: als BürgerInnen, die sich nicht aus dem Stadtbild verdrängen lassen. Und erobern zumindest für diesen Abend ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zurück.

12 Jul 2013

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Ines Kappert

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